Deutschland kämpft mit dramatischer Arzneimittelknappheit – DW – 20.12.2022

Täglich prüft der Berliner Apotheker Fatih Kaynak die Verfügbarkeit von Medikamenten in der zentralen Computerdatenbank – nur um festzustellen, dass Hunderte von Medikamenten noch nicht vorrätig sind.

“Uns gehen Antibiotika, Schmerzmittel, aber auch Blutdruckmedikamente und Medikamente gegen Krebs, Magen und Herz aus”, sagte Kaynak, während er eine lange Liste nicht verfügbarer Medikamente durchging. “Besonders schwierig ist es für uns, Kinder zu versorgen.”

Da sie Schwierigkeiten beim Schlucken von Tabletten haben, erhalten Säuglinge in der Regel flüssige Medikamente. Auch süß schmeckende Schmerzmittel und Antipyretika mit Paracetamol oder Ibuprofen sind in dieser Altersgruppe sehr gefragt. Mehr als 10 Millionen Packungen werden jedes Jahr in Deutschland verkauft, doch jetzt sind die Regale der Kaynak-Apotheke fast leer. Es gibt auch Versorgungsprobleme mit Penicillin und flüssige Antibiotika.

„Wenn ich 50 Packungen einer seltenen Droge haben möchte, habe ich vielleicht nur fünf“, sagte Kaynak.

Der deutsche Kinderarztdienst ist überfordert

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Verzweifelte Eltern in Deutschland melden sich seit Monaten in den sozialen Medien zu Wort. Beratung zu alternativen Hausmitteln ist sehr gefragt. Doch oft bleibt nur der Gang in die Notaufnahme des Krankenhauses – die überfordert sind.

Nun hat der Chef der Ärztekammer, Klaus Reinhardt, einen ungewöhnlichen Vorschlag gemacht: Wer gesund ist, soll alle Medikamente, die er zu Hause hat, an kranke Menschen in der Nachbarschaft spenden. “Wir brauchen so etwas wie Flohmärkte für Medikamente”, sagte Reinhardt in Berlin. Tagesspiegel Zeitung diese Woche. Zu diesen Märkten könnten auch Medikamente gehören, deren Verfallsdatum bereits vor einigen Monaten abgelaufen ist, fügte er hinzu.

Thomas Benkert, der Präsident der Bundesapothekerkammer, ist entsetzt über diese Idee. „Medikamente gehören in Apotheken, nicht auf Flohmärkte – und schon gar nicht in abgelaufene“, sagte er in einer Erklärung.

Bei steigenden Preisen suchen Apotheker nach Alternativen

Apotheken in Deutschland können Medikamente oft selbst herstellen und füllen jedes Jahr zwischen 12 und 14 Millionen Rezepte aus – obwohl dies nur eine kleine Menge ist, verglichen mit den rund 1,3 Milliarden verkauften Arzneimittelpackungen im Jahr 2021.

Nun mischen viele Apotheken wieder Fiebersäfte für Kinder – doch bei den Kosten für Zutaten und Personal liegt der Preis pro Flasche um ein Vielfaches über dem der Standardmedizin. “Aber was spielt der Preis für eine Rolle, wenn ein Kind hohes Fieber hat?” sagte Kaynak.

Es sind die aktuellen Arzneimittelpreise, die Deutschland in diese prekäre Lage gebracht haben. Für die pharmazeutische Industrie lohnt sich eine Produktion in Deutschland und Europa oft einfach nicht. Beispielsweise zahlen die Krankenkassen Unternehmen 1,36 Euro für eine Flasche flüssiges Paracetamol, ein Betrag, der in den letzten zehn Jahren nicht gestiegen ist, da der Preis des Wirkstoffs Paracetamol allein in diesem Jahr um 70 % gestiegen ist.

Foto von Kaynaks Computerbildschirm, auf dem alles auf der Liste als nicht verfügbar markiert ist
In der allgemeinen Datenbank ist alles, was mit einem lila Kreis markiert ist, in Deutschland ausverkauftBild: Sabine Kinkartz/DW

„Schnell steigende Preise für Wirkstoffe und Produktion machen die Herstellung von Medikamenten wie Paracetamol-Saft zu einem Verlustgeschäft“, sagte Andreas Burkhardt, Vorstandsvorsitzender des Pharmaunternehmens Teva. “Kein Unternehmen kann dies langfristig durchhalten.”

Teva ist mit seiner Arzneimittelmarke Ratiopharm der letzte große Anbieter von flüssigem Paracetamol in Deutschland – vor 12 Jahren waren es noch 11 Anbieter. Nachdem ein weiterer Hersteller im Mai dieses Jahres die Produktion eingestellt hat, muss Ratiopharm nun 90 % des Bedarfs decken. Das sei nicht machbar, so der Hersteller.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte stellte kürzlich fest, dass alles eingelöst worden sei. „Die Produktverfügbarkeit hat deutlich abgenommen. Gleichzeitig hat der starke Anstieg der Zukäufe zu regionalen Ungleichgewichten und Lagerhaltung geführt“, schreibt das Institut in einer Mitteilung.

„Einfache Medikamente wie eine fiebersenkende Flüssigkeit sind oft nicht mehr erhältlich“, sagt Thomas Fischbach, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. “Es gibt zu wenige Anbieter solcher Mittel, weil die Festpreisregulierung in unserem Land zu einer Abwanderung der Produktion in Niedriglohnländer wie Indien und China geführt hat.” Dort habe es auch Lieferkettenprobleme gegeben, die wiederum zu Engpässen geführt hätten.

Auf einem Regal sind Päckchen mit Paracetamol zu sehen
Das Unternehmen liefert Deutschlands gesamten Vorrat an flüssigem ParacetamolBild: Jeff J. Mitchell/Getty Images

Aufrufe, mehr Medikamente in Deutschland zu produzieren

Das Problem ist nicht neu: Anfang 2022 kam es in Deutschland zu einem dramatischen Mangel an Tamoxifen, einem Medikament zur Behandlung von Brustkrebspatientinnen. Es gibt keinen Ersatz für dieses Medikament und kritisch kranke Patienten benötigen eine regelmäßige Versorgung. Auch hier gab es einen akuten Lieferengpass, weil sich die Hersteller aus Kostengründen aus der Produktion zurückgezogen hatten.

Im Februar griff das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ein und ordnete an, dass aufgrund der Notlage alternative Medikamente mit Tamoxifen nun aus dem Ausland importiert und ohne deutsche Erlaubnis verkauft werden dürfen. Dennoch ist Tamoxifen nach wie vor eines der seltensten Medikamente.

Ärzte und Oppositionspolitiker fordern nun sofortiges Handeln der Bundesregierung, Experten fordern eine staatliche Produktion lebensrettender Medikamente in Deutschland. Es sei Zeit zum Umdenken, hieß es, und die Produktion solle aus Asien abgezogen werden.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach reagierte darauf mit dem Versprechen, mehr in den Einkauf und die Produktion von Arzneimitteln für Kinder zu investieren.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Deutsch verfasst.

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